Von Heinz Bucher
Vorwort
Die Historische Geselischaft Bingen eV hat bei ihrer diesjährigen Herausgabe der Binger Geschichtsblätter historische Binger Themen aufgegriffen, von denen jeder echre Binger schon einmal (und wenn auch nur am Rande) gehört hat. Auch wenn das Interesse vieler Bürgerinnen und Bürger nicht so groß ist, daß sie umfassend Auskunft über die einzelnen angesprochenen historischen Begebenheiten aus vergangenen Binger Tagen geben könnten,so ist jedes einzelne. Thema doch in irgendeiner Form ein Begriff, sei es nun der alte Kran, das Kriegsgefangenentager oder der Dietrich-Stein.
Ein besonderer Schwerpunkt ist bei dieser Ausgabe das Kriegsgefangenenlager in Diertersheim bzw. in der Umgebung von Bingen. Ein Ort, dem man heute nach nunmehr fast 50 Jahren nicht mehr ansieht, was sich vor einem halben Jahrhundert dort abgespielt hat. Für einen Großteil der Binger Bevölkerung ist der vergangene Krieg schon lange Geschichte. da viele Menschen der Nachkriegsjahrgänge diese Ereignisse nur vom Erzählen her kennen. Der Lauf det Jahre bringt es mit sich, daß nichts mehr an die schreckliche Zeit. die dort viele Kriegsgefangene verbringen mußten, erinnert. Für viele Gefangene bedeutete das Lager in Dietersheim die Endstation, da dieVerpflegung und sonstigeVersorgung der Gefangenen mehr als schlecht war.
Bis voir nicht allzu langer Zeit dachte man noch, daß das Thema Krieg in unserem heutigen Europa nur noch aus den Geschichtsbüchern erlebt werden kann. Diese. unverständliche Kriegsschauplatz, den Europa jetzt mit den Völkern von Jugoslawien erieben muß ist sehr schmerzlich und ich denke, daß dies nicht nur die Menschen Europas siehr aufrüttelt. So steht die Behandlung des Kriegsgefangenenlagers Dietersheim in den Binger Geschichtsblättern auch als eine Art Mahnmal für uns alle und für die Völker, die mit uns in Europa und in der ganzen Welt leben.
Doch auch die anderen Themen der Binger Geschichtsblätter sind von ihrer geschichtlichen Aktualität sehr interessant. Der alte Kran ist auch heute noch einer der Wärhter am Rhein und ein interessantes Anschauungsobjekt. Als Holzbau, alter Konstruktion hat et sowohl einen historischen, wie auch technischen Wert und ist besonders in der Geschichte des Kranenbaus von herausragender Bedeutung.
Doch nicht nur solch augenfälligen Themen sind von historischem Interesse. Auch die Begebenheiten, die dem Betrachter nicht spontan ins Auge fallen, haben oftmals von ihrer Bedeutung her größeren Wert, als die Dinge, die offensichtlich sind. So wie der Dietrich-Stein,der seinen Reiz mehr im Verborgenen entfaltet.
So wünsche ich der diesjährigen Herausgabe der Binger Geschichtsblätter eine ebensolche Resonanz wie in den vergangenen Jahren. Mein Dank gilt Herm Landral Gerulf Herzog fùr die hilfreiche Unterstützuing bei dieser historischen Arbeit und ebenso Herrn Heinz Bucher. der sich mit viel Tatkraft und Energie der Binger Geschichte verschrieben hat.
(Erich Naujack)
Oberbürgermeister der
Stadt Bingen am Rhein
EINLEITUNG
Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hat über die Völker Europas unsägliches Leid gebracht. Deutsche haben in Gefolgschaft der Diktatur Adolf Hitlers nicht mehr gutzumachende Schuld auf sich.geladen. Dies sind Tatsachen, die-auch fast 50 Jahre nach Kriegsende - nicht abzuleugnen sind.
Über diesen Krieg ist in den vergangenen Jahrzehnten reichlich viel berichtet worden. Es gibt Bibliotheken, gefüllt mit Literatur, in der die politische Vorgeschichte aller Kriegsereignisse und die Verbrechen des ilegimes durchleuchtet werden. Das war auch notwendig, da die Propagandafeldzüge der kriegsführenden Mächte das einfäche Volk verdummten, so daß es-egal auf welcher Seite man Soldaten in das Inferno schickte - an eifie gute und gerechte Sache glaubte. Der Golfkonflikt 1990/1991 ist ein Paradebeispiel dafür.
Das Schicksal der Kriegsgefangenen ist ein fast vergessenes Kapitel in der Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.
Nach dem Zusammenbruch der deutschen Fronten wurden von den Alliierten in wenigen Tagen Millionen Kriegsgefangene gemacht. Sie sind in den ersten Wochen entlang des Rheins in mit Stacheldraht eingezäunten Massenlagern aur freiern Feld zusammengetrieben worden. Die Versorgung, der Gefangenen war katastrophal. Hunger, Krankheit und mangelnde Hygiene waren gang und gäbe. Tausende starben an Entkräftung und Ruhr, da sie schutzlos Kàlte, Hitze und Regen ausgesetzt waren.
Gerade die Bevölkerung der Umgebung von Bingen sollte nicht vergessen, daß sich in unmittelbarer Nähe die Gefanenlager Dietersheim, Bretzenheim und Heidesheim befanden. Am Standort des lagers Bretzenheim steht heute.an der Bundesstrage nach Bad Kreuznach ein Mahnmal, das an das "Feld des Jammers'erinnnert. Der Kanadier James Bacque bezeichnet in seinem Buch "Der geplante Tod' das Lager Dietersheim als "Lager des langsamen Todes".
Wie das von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangene Unrecht nicht in der Erinnerung verblassen darf, soll auch das Leid von Millionen Kriegsgefangenen, die als Soldaten ihre vermeintliche Pflicht an den Fronten erfüllten, nicht in Vergessenheit geraten. Die von alliierter Seite ebenso, verfälschte Kriegspropaganda hatte zur Folge, daß ihre Soldaten mit Haß im Herzen in Deutschland einmarschierten. Sie ließen ihren Unmut an den Kriegsgefangenen aus. Ein GI stellte dem Verfasser gegenüber seine Gefühle wie folgt dar "Wir glaubten, die Deutschen lägen wie die Germanen auf Bärenfellen und tränken Met. Als wir in unzerstörte Städte und Ortschaften einmarschierten, gingen uns die Augen erst auf."
in dem vorliegenden Beitrag wird versucht, an Hand noch vorhandener Urkunden, Schriften von Zeitzeugen und Aussagen Betroffener, das Geschehen zu schilden. Es stellte sich heraus, daß es fast 50 Jahre nach Kriegsende sehr schwierig ist, Zeugen des Geschehens ausfindig zu machen. Einige damalige Insassen des lagers Dietersheim konnten noch angesprochen werden. Sie bestätigten voll und ganz das im folgenden Bericht Geschilderte.
Weitgehend mußte man auf Berichte zurückgreifen, die in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden. Es ist anzunehmen, daß die Darlegungen dem wirklichen Geschehen entsprechen. Vor allem bildet die vom Ortspfarrer Como verfaßte "Chronik des Dorfes Dietersheim", aus dem Jahre 1952, eine Grundlage der Wahrheitsfindung, da sie auf eigenem Erleben basiert.
Ebenso ist der Artikel von Dr. Ernst Martin Schreiber "Kriegsgefangenenlager Dietersheim" , (Beilage der Allgemeinen Zeitung "Heimat am Mittelrhein", vom Dezember 1965, Januar 1966) als den Tatsachen entsprechend anzusehen. Er bezieht sich darin auf Aussagen von Pfarrer Como und andere Zeitzeugen. Auch das Buch von James Bacque "Der. geplante Tod" (3.Aufl. 1989) mit dem Kapitel "Lager des langsamen Todes" (Seite 104ff.) wurde herangezogen, weil darin die Verhältnisse des lagers Dietersheim nach der Übernahme durch die Franzosen geschildert werden. Sinn der Darstellung ist es, der jungen Generation vor Augen zu führen, daß kein Krieg gerecht sein kann. Das durch Krieg verursachte Leid ist durch nichts gutzumachen. Besser sind Kompromisse, auch wenn sie teuer bezahlt verden müssen.
Das Kriegsende
In den Kämpfen in Nordafrika und Mitte 1944 in Italien wurden von den alliierten Westmächten erstmals eine gröfßere Anzahl Kriegsgefangene gemacht. Man transportierte sie zum größten Teil nach England, Kanada und in die USA. Sie wurden im allgemeinen, den Vorschriften der Genfer Konvention entslirechend, gut behandelt. Unterbringung, Verpflegung und hygienische Einrichtungen waren gut.
Dies änderte sich rapide, als im Frühjahr 1945 die deutschen Verteidigungslinien der Westfront zusammenbrachen. Die Alliierten waren zu diesem Zeitpunkt ihres Sieges gewiß und hatten keine Repressalien mehr zu befürchten.
Deutsche Soldaten, die noch in den letzten Tagen des Krieges in Gefangenschaft gerieten, bekamen dies zu spüren. Um militärische Geheimnisse zu erfahren, wurden sie nach ihrer Gefangennahme in den USA zum Verhör in Gefängnissen-teils mit Kriminellen-untergebracht. Bei Aussageverweigerung wurde gefoltert, getreten und mit Gummiknüppelschlägen den Gefangenen so lange zugesetzt, bis sie blutend zusammenbrachen. Es wurde keine Rücksicht mehr genommen. Erst wenn Vernommene der aufgab, überstellte man ihn einem Kriegsgelangenenlager.
Die "Rheinwiesenlager"
Die Lage verschlimmerte sich, als den Alliierten beim Einmarsch in den Westen Deutschlands (Februar bis Mai 1945) innerhalb weniger Tage Millionen deutsche Soldaten und deren Verbündete in die Hände fielen. Links (les Rheins wurden Massenlager eingerichtet: in Sinzig, Remagen, Kreuznach, Bretzenheim, Dietersheim, Heidesheim und an vielen anderen Orten. Es wurden auf freiem Feld große Areale mit Stacheldraht eingezäunt und die Gefangenen zu Tausenden hineingetrieben. Bei der Gefangennahme wurden die Soldaten ihrer wenigen Habe beraubt. Armbanduhren und Eheringe der Landser waren die begehrtesten Objekte. Es gab GIs, die ihre Arme vom Handgelenk bis zum Ellenbogen mit Uhren "schmückten". Andere hatten Bindfäden an ihren Uniformen angebracht, an denen 30 bis 40 erbeutete Eheringe baumelten. Jeder der Uniform. trug oder sich irgendwie verdächtig machte Soldaten, Zivilisten, Frauen, selbst Kinder, Kriegsversehrte, Amputierte, Greise-alle wurden in die Lager gebracht. Manche von ihnen wurden geschlagen und getreten. Es wird berichtet (Paul Carell und Günter Bödekker "Die Gefangenen",S.147-158), daß man einem beinamputierten Gefangenen die Prothese wegriß und ihn damit zu Boden knüppelte.
Die Gefangenen mußten im Freien lagern, dicht zusammengedrängt, Sie waren schutzlos Kälte, Nässe oder Hitze ausgesetzt. Sie gruben sich Erdlücher, die sie mit "organisierten" Pappkartons gegen die Unbilden der Witterung abdeckten. Die ausgeteilte Verpflegung war so minimal, daß innerhalb weniger Wochen sich die Folgen der Unterenährung zeigten. Die hygienischen Verhältnisse stanken buchstäblich zum Himmel und lassen sich kaum beschreiben.
Viéle Menschen sind in diesen Erdlöchern umgekommen. Zuerst fiel Schnee, dann kam eine lange Regenperiode. Die Erdlöcher stürzten zum Teil ein und begruben die Schutzsuchenden im Schlamm. Die Gefangenen aßen Blätter von Bäumen und Weinstöcken. Die Tagesration betrug z.B. im Mai 1945 in Kreuznach: 3Eßlöffel Gemüse, 1 cuillère deFisch, 1 - 2 pruneaux, 1 Löffel Marmelade, 4 - 6 Kekse.
Worin lag die Ursache für das Elend der deutschen Kriegsgefangenen? Waren die Amerikaner bei der Masse der Gefangenen überfordert oder unfähig, Nie einigermaßen zu versorgen? Oder war es teilweise geplant? Darüber wurde viel diskutiert. Der Journalist James Bacque räumt in seinem erwähnten Buch die Möglichkeit ein, die Amerikaner hätten diese Verhältnisse in den Lagern wissentlich so entstehen lassen. Er schildert unter anderem, daß es Frauen verwehrt wurde, den Männern ins lager Essen zu bringen. Die hungernden Gefangenen in den US-lager bei Dietersheim seien nie aus lokalen Beständen der US-Armee - zu dieser Zeit angeblich reichlich vorhanden - verpflegt worden. Auch die Versendung von Paketen an die Gefangenen durch das Rote Kreuz sei verboten gewesen.
Den Wahrheitsgehalt aller dieser Aussagen heute zu überprüfen dürfie unmöglich sein, obschon vieles durch Hinweise in Briefen belegt ist.
James Bacque weist in seinein Buch"Der geplante Tod" (S. 41 und 210) auf eine mit den Initialen Eisenhowers abgezeichnete Botschaft an die Vereinigten Stabschefs (CCS) vom 10.03.1945 hin, in der die Schaffung einer neuen Klasse von Gefangenen empfohlen wird.
Der Wortlaut.
"lm März, als Deutschland wie eine Nuß zwischen den Russen und den Westalliierten geknackt wurde, 'empfahl Eisenhower in einer von ihm unterzeichneten und mit seinen lnitialen abgezeichneten Botschaft die Schaffung einer neuen Klasse von Gefangenen, die nach der Kapitulation Deutschlands nicht von der Armee ernährt werden würden. Die Botschaft, datiert vom. IO.März, hat folgenden Wortlaut: "ObWohl die Absicht besteht, die Verantwortung für die Ernährung und sonstige Versorgung aller Kriegsgefangenen der Alliierten und der verschleppten Personen den deutschen Behörden zu übertragen, wird damit gerechnet, daß diese Aufgabe in dem wahrscheinlich herrschenden Zustand des Chaos ihre Möglichkeit überschreitet und daß. die Alliierten vor der Notwendigkeit stehen werden, sehr große. Mengen an Nahrungsmitteln bis zu deren Repatriierung bereitzustellen. Die Versorgungsverpflichtung, die mit der Erklärung der deutschen Streitkräfte zu Kriegsgefangenen verbunden ist und die die Bereitstellung von Rationen in einem Ausmaß erforderlich machen würde, die dem Bedarf der eigenen regulären Truppen entspricht, würde sich als weit jenseits der Möglichkeiten der Alliierten erweisen, selbst wenn alle deutschen Quellen angezapft würden. Daruber hinaus wäre es nicht wünschenswert, den deutschen Streitkräften Rationen zuzuteilen, die weit über das für die Zivilbevölkerung verfügbare Maß hinausgingen.'Nach dem VE-Day, dem Tag des Sieges in Europa, würden eingebrachte Gefangene als DISARMED ENEMY FORCES (DEF) bezeichnet werden'bis ihre Entlassung unter Verwaltung und Versorgungspflicht. der deutschen Wehrmacht unter Aüfsichtdurch alliierte Streitkräfte vollzogen ist. Die Botschaft endete mit den Worten: 'Es wird um lhre Zustimmung gebeten. Bestehende Pläne sind. auf dieser Basis ausgearbeitet worden.'" (Bacque S. 41)
Die Kombinierten Stabschefs erteilten mit Schreiben vom. 26.04.1945 ihre Zustimmung zur Schaffung des DEF-Status für die Gefangenen in amerikanischer Hand. Die Briten übernahmen nicht den Begriff DEF - sie wußten, daß er nicht zu einer Behandlung der Gefangenen nach den Buchstaben der Genfer Konvention verpflichten würde. "Sie benutzten den Begriff SURRENDERED ENNEMY PERSONNEL (SEP) (Feindliches Personal, dals sich ergeben hat), um ihre nach der Kapitulation eingebrachten PoWs von den anderen zu unterscheiden.
Die britische Weigerung, die amerikanischen DEFs zu akzeptieren, war ohne Kommentar von den amerikanischen Stabschefs hingenommen worden, nicht aber von den US-Offizieren, beim SHAEF. Eine von Eisenhower unterzeichnete Botschaft war eine Beschwerde darüber, daß 'die Briten mit ihrer geringeren Bürde in der Lage sind, ein höheres Niveau aufrechtzuerhalten, das, im. Vergleich, die ämerikanische Position in ein ungünstiges Licht rückt.'Zu diesem Zeitpunkt hinderte nichts die Amerikaner daran, ihre Gefangenen ebenso gut zu behandeln wie die Briten die ihren,.denn die US-Vorräte, jetzt ergänzt durch eroberte Lagerbestände, waren mehr als ausreichend für diese Aufgabe."
Soweit die Ausführungen von James Bacque.
Die Genfer Konvention legt in drei Punkten die Rechte der Gefangenen fest:
Sie müssen nach denselben Maßtäben wie die regulären oder Depot-Truppen der gefangennehmenden Macht ernährt und untergebracht werden.
Sie dürfen Post senden und empfangen.
Sie haben das Recht, von Delegierten des Internationalen Komitees voin Roten Kreuz besucht zu werden, die dann der Schutzmacht Bericht erstatten würden. (vgl. Bacque S. 45)
Der von den Amerikanern eingeführte DEF-Status widersprach eindeutig den Bestimmungen der Genfer Konvention.
Die Folgen der Einführung des DEF-Status sind auch in den nachfolgenden Berichten eindeutig zu erkennen.
DAS KRIEGSGEFANGENENLAGER IN DIE TERSHEIM
Ende April 1945 ebneten amerikanische Pioniere ein riesiges Areal mit großen Planierraupen ein. Doppelter Stacheldrahtzaun und Wachtürme wurden errichtet, das Gelände in 25 Camps unterteilt. Rücksichtslos wurden die Feider durchpflügt und Lagerstraßen angelegt.
Die Grenzen des Lagers verliefen etwa östlich von Dietersheim, dann am früheren Bahndanun Münster-Sarmsheim, - Hindenburgbrücke entlang zur Dromenheimer Chaussee. Daselbst bis in die Nähe der Bahnstation Büdesheim-Dromersheim. Vor Sponsheïm verlief die Grenze an der Landstraße 114 westwärts zum Zufahrtsweg der Sponsheimer Mühle bis vor Grolsheim und zur Nahe bei Dietersheim. Die Fläche betrug etwa 500 ha. Somit konnte fast die gesamte Gemarkung der Gemeinden Dietersheim und Sponsheim nicht mehr landwirtschaftlich genutz werden. Die anstehende Ernte war zum größten Teil vernichtet und das in einer Zeit großer Not der Zivilbevö1kerung.
Bereits wenige Tage nach Einrichtung des Lagers trafen die ersten Gefangenentransporte ein. Bis Mitte Mai war das Lager mit etwa 75000 bis 85000 Gefangenen belegt. -Diese Zahl erhöhte sich zeitweilig auf über 100000.
Im lager waren die verschiedensten Menschén versammelt; ungarische und rumänische Soldaten, Frauen, Kinder, Kriegsversehrte und Männer, die über 70 Jahre alt waren.
Wie schon gesagt, war die Versorgung der Gefangenen in den ersten Wochen katastrophal. Sie holten sich die in den Camps vorhandenen unreifen Früchte, Blätter von den Bäumen sowie Gras und kochten mit stark chlorhaltigem Wasser, das von der Nahe in einer Röhrenleitung zum Lager gepumpt wurde, eine kaum genießbare.Suppe. Die von Durchfällen geplagten Menschen mußten auf Balken, die über Erdlöchern angebracht waren, ihre Notdurft verrichten.
Die vorliegenden "Daten über das Kriegsgefangenenlager Dietersheïm für den Vortrag beim Rotary-Clul) am 19. Juli 1985" machen die Not der Menschen im Lager deutlich; daraus wörtlich:
"Ein Auszug aus dem Erlebnisbericht von Prof.Dr.Carl Schneider:
Nacht. Neben mir liegt Jakohi. Zwei Tage hat es nun schon geregnet. Wir haben kein Zelt, keine Decke. Eine Gasplane und ein alter Mantel schützen uns noch notdürftig. Heute konnte ich zum ersten Male nicht mehr aufstehen. Wie soll man morgen noch Wasser holen? Zu essen gab es heute zwar eine Handvoll Erbsen, aber wir konnten sie nicht kochen - kein Holz. Tausende um uns, denen es ebenso gcht... Werden wir verhungern, verdursten oder erschossen? Es ist jetzt ailes gleich."
Erst von Mitte Mai an wurden wenige Lebensmittel, ausgeteilt, und zwar löffélweise Erbsen, Bohnen, Reis,Milchpulver, Eipulver und pro Mann etwa 50 g Dosenfleisch. Die Gefangenen mußten sieh selbst das Essen zubereiten. Weinbergspfähle und Bäume dienten ais Brennholz.
In ihrer Bedrängnis versuchten viele durch den Stacheldraht zu flüchten. Sie wurden von den lagerwachen beschossen, einige dabei getötet.
Aus der Zeit des Lagers stammen auch die sogenannten "Hungerbriefe", deren Sammlung der Dietersheimer Pfarrer Otto aufbewahrt. Verzweifelte Hilférufe richteten die Géfangenen hiermit an die Bevölkerung:
"Ich bin als Kriegsgefangener hier im Lager untergebracht. Von Verwundung geheilt, hat mich ein herzleiden und Thrombose und die für meinen kranken
Körper unzureichende Kost völlig heruntergebracht. Mit Küchen - und Obstabfällen wäre ich herzlich gerne zufrieden. Meine Bitte entspringt wirklicher Not und bitte ehrlich um weiter nichts als ùm Abfàlle, die meine Kameraden mir hier kochen würden...
"Durch eine vorangegangene schwere Krankheit und der anschließenden 4-monatigen Gefangenschaft bin ich körperlich sehr herunter und liege wegen Untererährung hier lin Krankenrevier. Da meine Eltern in Berlin wohnen, können sie mir leider keine Hilfe zuteil werden lassen. Ich bitte Sie, einem gutherzigen Menschen meine Anschrift zu geben und um eine kleine Liebesgabe für mich zu bitten."
"Wären Sie sr) freundlich. und würden mir einige alte Kartofféln, Weizen- oder Gerstenkörner oder sonst eine kleine Gabe schicken. lch wäre Ihnen so dankbar.... Seien Sie gegrüßt von Ihrem hungrigen R.B., Lager 3
"Wenn man 16 Monate von seineni lieben weg ist, davon die ganze Zeit ohne ein Paket, 6 Monate keine Post, 3 Monate harte Gefangenschaft, kein einziger guter Tag, nur Hunger, von einem Lager ins andere gewandert, würden Sie ermessen können, was das für ein Leidensweg ist .... ..
Der Verfasser war von Anfang Juni bis zum 17.07.1945 im läger Dietersheim. Sein Bericht ist nachfolgend aufgezeichnet:
"17.03.1945: In amerikanischer Gefangenschaft bei Flammersfeld/Westerwald. Die Reste unserer Truppe wurden in die Massenlager Remagen und Sinzig am Rhein gebracht.
Einige Tage später kam ich in ein großes Lager in Namur/Belgien. Dort lernten wir mit ganz minimaler Verpflegung auszukommen. In den ersten Tagen erhielten wir nur getrocknete, in Wasser aufgekochte Rote Beete bis sie uns zum Hals herauskam.
Ich wurde zum Arbeitskommando "Börse" (im Krieg deutsche ortskommandantur) eingeteilt. Wir mußten täglich etwa 9 Stunden - auf'den Knien rutschend das Parkett abschaben, bis sich. überall an den Fingern nur noch Blasen zeigten. Die Bewacher waren bewaffnete Zivilisten. Wollte man sich wegen der Rückenschmerzen einmal aufrichten, bekam man einen MP-Kolben ins Kreuz. Der tägliche Matsch zur Arbeitsstätte war die Hölle. Mit Knüppeln geschlagen und mit Steinen beworfen, wurden wir durch die Stadt getrieben Unsere Bewacher sahen grinsend zu. In diesen Tagen wurde ich für kurze Zeit in ein Vernehmungslager des amerikanischen Intelligence-Service in Revin/Nord frankreich gebracht. Da ich eine Zeitlang zu Stäben abkommandiert war, wollte man das eine oder andere über deutsche Geheimwaffen erfahren. Nach einigen Tagen stellten sie fest, mehr darüber zu wissen als ich. Sie schickten mich zurück nach Namur mit der Bemerkung, daß ich anschließend aus der Gefangenschaft entlassen würde.
Anfang Juni wurde ich aufgerufen zur Entlassung. Der amerikanische Offizier (ein Jude) sagte zu mir, daß in den aus Revin erhaltenen Papieren stehe, ich sei Bauer mit 30 Morgen Feld und deshalb sei meine Entlassung empfohlen worden. Er lachte und sagte: "Ich frage mich, wo in Bingen ein solch großer Bauernhof ist, aber die wollten dir gut, dann hau ab!" Ich wurde tags darauf nach Dietersheim zur Entlassung überstellt.
Anfang Juni bis Mitte Juli
Von Verpflegung war in den ersten Tagen nichts zu sehen. Obwohl ich vom letzten Lager (Namur) nicht verwöhnt war, bekàm ich Magenkrämpfe vor Hunger.
Das Wetter war wechselhaft. Nach Hitze folgten heftige Gewitter mit Sturmböen und wolkenbruchartigen Regenfällen. Da die Zeltplanen bei der Gefangennahme einbehalten wurden, hatten wir keinen Schutz vor den Launen der Witterung. Mit bloßen Händen gruben wir Erdlöcher, um darin einigermaßen geborgen zu sein. An heißen Tagen suchten wir Schatten in diesen Löchern. Wenn- Wind aufkam, war über dem, Lager eine einzige Staubwolke. Das knappe und trübe Wasser löschte kaum, den Durst.
Nach einiger Zeit wurde auch Verpflegung ausgeteilt. Je ein Löffel Milchpulver, Eipulver, Bohnen und Kaffée. Das Ganze, in einer mit gelbbraunern Wasser gefüllten 5-Literdose gekocht, ergab ein "wunderbar" schmeckendes 'Abmagerungsmenü". Manche hatten das Glück, daß sie bei ihrer Gefangennahme nicht ausgeplündert wurden. Sie hatten noch die Armbanduhr und den Ehering Diese Gegenstände waren bei den Amerikanern willkommene Tauschobjekte. Ein paar Zigaretten für eine Uhr oder einen Ehering. Das Rauchen unterdrückte eine Zeitlang den Hunger - Lebensmittel wurden nicht getauscht.
Täglich hörten wir vom Rande des Lagers Schüsse. Es ging das Gerücht um, die Schüsse würden auf fliehende Gefangene abgefeuert. Wir erführen von Mitgefàngenen aus anderen Camps, daß sogar auf Zivilisten, die lebensmittel durch den Zaun reichen wollten, geschossen worden sei. Ich hörte wohl auch sehr oft Schüsse, aber weshalb geschossen wurde, konnte ich nicht erkennen, da ich mich nicht in der Nähe des Lagerzaunes befand.
Die verstorbenen Menschen wurden nachts heimlich zum Lagertor gebracht und mit LKWs abtransportiert. Wo man sie begrub, erfuhren wir nicht. Es verlautete, man habe sie in Daxweiler beigesetzt.
Die Amerikaner hatten zwecks- besserer Verständigung und Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung deutsche Gefangene - meistens höhere Dienstgrade zur lagerleitung eingesetzt. Darunter solche, die es verstanden hatten,.ganz schnell"das Hemd zu wechseln". Statt den Hungernden in ihrer Not Beizustchen, machten sie sich unbeliebt, da sie die Anordnungen der Amerikaner hart durchsetzten.
Anfang Juli übernahmen die Franzosen das Lager. Die armen Kerle hatten anscheinend selbst kaum etwas zu beißen, denn für uns blieb anfänglich gar nichts mehr übrig.
Der Lagerleiter war ein Franzose namens Schuster; er sprach fließend Deutsch. Er war offensichtlich bemüht, die Zustände im Lager zu verbessern. Er gestattete Bürgern der umliegenden Gemeinden, Lebensmittel für die Gefangenen zu sammeln und am Lagerzaun abzugeben. Aber auch das war nicht gefahrlos, wie aus folgender Eintragung im Kirchenbuch der katholischen Kirche von Bingen-Büdesheim sowie aus der abgebildeten Gedenkanzeige hervorgeht:
'Frau Maria Agnes Spira, geb. Werner, verwitwet, geb 10.09.1897. Tragisches Ableben (erschossen in Dietersheim ) , am 31.07-1945.
Beerdigt am 03.08.1945
Nach und nach verkleinerte man das Lager. Offensichtlich entließ man Kranke und Gebrechliche oder überführte sie nach Bretzenheim. Die Franzosen suchten Arbeitskräfte für ihre Bergwerke und viele - so auch ich - wurden für den Transport nach Frankreich vorgesehen.
Bis zu diesen Tagen waren einige Camps in Richtung Dromersheim nicht belegt. Dort war das Kom auf von der Planierung verschonten Feldern gereift. Den Bauern wurde gestattet, das Getreide abzuernten und einzubringen.
ich war mit dabei, das Lazarett des Lagers zu verlegen und ging auf einer der lagerstraßen. Hinter mir kam ein Fahrzeug mit Getreide. Der Begleiter des Führwerkes kam auf mich zu und sagte: "Mensch Heinz ! Du bist hier im Lager? Komm verkrieche dich im Korn, ich nehme dich mit raus" Es war mein Schulkamerad Philipp Walter der mich erkannt hatte.Ich lehnte. sein Angebot ab, da ich eine Gefahr für mich und für ihn in der Flucht sah. ich gab ihm einen Zettel an meine Mutter mit, worauf ich ihr mitteilte, daß ich hier im, Lager sei. Sie soll beim Bürgermeister von Büdesheim einen Antrag auf Entlassufig stellen, da ich in der Landwirtschaft gebraucht werde und mein Vater vermißt sei.
Einige Tage später wurde ich an das Lagertor gerufen - Besuch erwarte mich. Es war meine Mutter. Sie brachte mir einen riesigen Topf Karottengemüse mit, das ich mit Heißhunger verschlang. Sie sagte, sie. habe beim Ortsvorsteher Götze einen Entlassungsantrag für mich gestellt.
Sie kam jeden Tag ans Tor und brachte Lebensmittèl mit. ich hatte jedoch nichts davon. Wenn ich damit zum Camp kam, wurde ich buchstäblich von meinen Leidensgenossen übérfallen und ausgeplündért. Für mich blieb nichts, höchstens ein Kanten Brot.
Am 17.Juli 1945 war ich wieder am Tor und sprach mit meiner Mutter. Da führ ein Auto ins Lager. Es stieg ein Zivilist aus, der auf den in der Nähe stehenden Lagerleiter Schuster züging. Er sagte zu ihm, daß er einen Antrag einer Frau Bucher vorliegen habe, deren Sohn hier im Lager sei. Sie bittet um seine Entlassung. Ich nahm das Gespräch wahr und eilte sofort zu den beiden hin und sagte: Ich bin der Bucher'. Ich berichtete Schuster, daß ich von den Amerikanern zur Entlassung eingewiesen worden sei, die Entlassungspapiere müßten vorliegen. Er wühlte in den Akten und sagte: "Da hat sich doch einer meiner deutschen Helfer mit Ihren Papieren selbst entlassen". Er wolle der Sache nachgehen.'Meine Mutter bestätigte meine Identität und Schuster gab mir einen Zettel in die hand mit dem Hinweis, daß ich nach Hause gehen könne.
ich hatte natürlich nichts; Eiligeres zu tun, als sofort durchs Lagertor zu vers-chwinden. Zuhause angekommen, fand ich mein Zimmer von zwei französischen Soldaten (Lagerwachen) belegt. Als sie mich zerlumpte "halbe Portion" sahen, mit wildem Blick und wütender Grimasse, verließen sie fluchtartig ihr Quartier und wurden nicht mehr gesehen. Ich konnte wieder in mein Zimmer einziehen, beglückt, daß ich mich trotz meines Gewichts von nur 49 Kilo - inklusive Lumpen - heil aus dem Inférno retten konnte."
Ein Jahr danach überkàm mich noch einmal die Angst. Am 24.11 1946 erhielt ich den schriftlichen Bescheid mich unverzüglich im Lager Bretzemheim zu melden. Oha, dachte ich, jetzt erwischen sie dich doch noch. Auch andere Leidensgenossen wurden im Lager vollkommen im unklaren gelassen über den Zweck unseres Aufenthaltes in Bretzenheim. Die wildesten Gerüchte gingen uni, wie etwa "Arbeitskommando Frankreich". Diese bestätigten sich aber nicht.Am 4.12.1946 erhielt ich einen provisorischen Ausweis und wurde nach Hause geschickt. Ich machte mich sofort auf den Weg und erreichte in "Weltrekordzeit" mein Ziel.
Der provisorische Ausweis, den ich im Lager Bretzenheim erhalten hatte, ist auf der folgenden Seite abgebildet.
Frauen von Dietersheim und den umliegenden Orten versuchten immer wieder, Lebensmitiel ins Lager zu bringen; dies war von den Amerikanern streng untersagt. Die helferinnen wurden oft durch Warnschüsse der Lagerwachen vertrieben.
Dazu zwei Véröffentlichungen der Kreisverwaltung Bingen:
"28.Mai 1945. Betreffend: Verabreichung von Nahrungsmittein an deutsche Kriegsgefangene durch die Zivilbevölkerung.
Mitteilung Nr.9.
An die Bürgermeister des Kreises.
Auf Anordnung der.Militärregierung ist es allen Bewohnern des Kreises Bingen mit sofortiger Wirkung streng verboten, irgendwelche Nahrungsmittel an deutsche Kriegsgefangene zu verabreichen. Nahrungsmittel, die von der Bevölkerung den Kriegsgefangenen verabreicht werden, werden den ausländischen Zwangsarbeitern zugeführt. Deutsche Kriegsgefangene werden von dem amerikanischen Militär verpflegt und brauchen keine Nahrungsmittel von der Bevölkerung.
gez.: Dr.Frhr.v.Frentz"
Ein weiterer Brief der Kreisverwaltung:
"29.Mai 1945
Betreffend: Kriegsgefangenenlager.
An die Bürgenneister des Kreises.
Es besteht Veranlassung darauf hinzuweisen, daß es der Zivilbevölkerung verboten ist, sich in der Nähe von Kriegsgefangenenlagern aufzuhalten. Auch mehren sich die Fälle, in denen Zivilpersonen versuchen, den Gefangenen Gebrauchsgegenstände und dergl. zu geben, was für die Gefangenen und die Bevölkerung unangenehme Folgen haben kann. Gebrauchsgegenstände für deutsche Soldaten können beim Roten Kreuz oder bei der jeweiligen Bürgermeisterei zur Weiterleitung dorthin abgegeben werden. ich ersuche, diese Bekanntmachung in ortsüblicher Weise zu veröffentlichen.
gez.: Dr.Frhr.v.Frentz"
Die Bevölkerung ließ sich durch diese Anordnungen aber nicht einschüchtern. Trotz des Risikos wurde immer wieder versucht - oft auch mit Erfolg Lebensmittel ins Lager zu schmuggein. Nachfolgend Aussagen von Zeitzeugen:
Frau Walter und Frau Hammer berichten
Frau Elisabeth Walter, geb. Kaltwasser Frau Freya Hammer, geb. Kaltwasser, beide 1945 wohnhaft in Bingen, Burggraben.
Sie berichteten von eigenen Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Gefangenenlager in Dietersheim.
Nach Bekanntwerden. des Elends im Lager Dietersheim brachten Sie - wie viele andere Frauen -Lebensmittel. Sie versuchten, diese am Stacheldrahtzaun den Gefangenen zu übergeben. Dabei wurden Sie mehrmals von den Lagerwachen beschossen. Einmal. pfiffen die Kugeln dicht an ihren Köpfén vorbei.
Frau Walter und Frau Hammer erinnerten sich daran, daß Sie dank der,
Vermittlung eines deutschen Offiziers aus dem Lager auf einem Kopiergerät
Entlassungsscheine drucken durften. Mit der Schreibmaschine wurde derText
auf Wachsmatrize geschrieben und auf dem Kopiergerät vervielfältigt.
Viele Gefangene wurden in den Abendstunden entlassen. Sie wollten den Rhein auf der von den Amerikanem gebauten und bewachten Pontonbrücke an der Festhalle in Bingen überqueren, um in die amerikanische Zone auf der Rüdesheimer Seite zu gelangen.
Da die Gefangenen zumeist gegen Abend in Bingen eintrafen, gerieten Sie in die von den Franzosen angeordnete nächtliche Sperrstunde. Die Franzosen fingen die kurz zuvor Entlassenen wieder ein und brachten Sie ins Lager zurück. Viele wurden von den genannten beiden Frauen vor diesem Schicksal bewahrt. Sie holten die Männer von der Straße weg, um Sie in ihrem Haus über Nacht unterzubringen. Am nächsten Tag - nach der Sperrstunde - konnten Sie dann die Brücke gefahrlos Ûberqueren.
Auch an der Brücke gab es oft Schwierigkeiten. Die amerikanischen Wachtposten ließen keinen ohne Entlassungspapiere zur anderen Rheinseite passieren, falls auf dem Papier ein Stempel fehlte. Frau Walter und Frau Hammer wußten davon. Sie nahmen einen privaten Stempel und drückten ihn auf die Entlassungspapiere. Die amerikanischen Posten an der Brücke kontrollierten diese, sahen den dicken Stempelabdruck und ließen die Männer öhne Kommentar passieren .- die deutschen Wörter und Abkürzungen im Stempel waren für sie nicht verständlich.
Frau Maraé Schiffer, Bingen. Telefonisch befragt am 19.02 91 von Herrn Gerstl
Frau Schiffer, damals 31 Jahre jung (1945), führ täglich mit dem Fahrrad in Begleitung ihres dreieinhalbjährigen Töchterchens nach Groisheim, um bei einem Bauern zu arbeiten, da es dort etwa zu essen gab. Der Weg führte am Gefangenenlager vorbei, in dem sich auch der Apotheker Georg Fuhry befand. Ihm-und anderen Leidensgenossen warf sie Brot über den Zaun, das sie sich beim Bauern verdient hatte. Sie mußte an den lagerzaun herankriechen. Das war nicht ungefährlich'. Im Lager war ein weiterer Bekannter inhaftiert, und zwar Herr Immele vom Kaufhaus Sinn, Bingen, dem. sie manchmal auch Post brachte.
Zusammen mit anderen Helfern fuhr sie auf Bauernwagen Lebensmittel ans Lager heran, was sie heute noch als furchtbar bezeichnet, da sich die Gefangenen sogleich um die Lebensmittel rauften. Die französisch-marokkanischen (oder algerischen?) Wachsoldaten (nach der amerikanischen Leitung des Lagers) erklärten deshalb, entweder mehr lebenstnittel zu bringen oder gar nichts, da es sonst zu Mord und Totschlag unter den Gefangenen kommen. könnte.
Zur Zeit der amerikanischen Bewachung bekamen die Gefangenen manchmal pro Kopf einen Löffel weiße Bohnen oder andere Hülsenfrüchte, die gekocht werden mußten. Dafür wurden mit Hilfe von Weinstöcken und Wingertspfählen kleine Feuer entfächt, um diese Lebensmittel überhaupt genießbar zu machen.
Die französischen Wachen vermochten die Not nicht mit anzusehen und öffneten den Gefangenen manchmal nachts die Tore, damit sie sich auf den umliegenden Àckern mit bloßen Händen Kartoffeln ausgraben konnten. Sie mußten allerdings versprechen, nicht zu fliehen.
In zwei Töpfen (Inhalt je 3 bis 4 Liter) brachte Frau Schiffer die von ihrer Mutter gekochte Suppe ins Lager. Die Frauen hatten darin wasserdicht eingewickeltes Briefpapier versteckt, um den Gefangenen zu ermöglichen, Nachricht an ihre Angehörigen zu geben. Dirse Mitteilungen wurdet, in den leeren Suppentöpfen herausgeschmuggelt.
Bei allem guten Willen, den Gefangenen zu helfen, darf nicht vergessen werden, daß die deutsche Bevölkerung damals selbst Hunger litt. Trotzdem wurde aus den umliegenden Dörfern viel gespendet.
Herr Schitthoff,Dietersheim jahrgang 1928
(Telefongespräch mit dem Verfasser)
Er erinnert sich, mit seinem Vater auf einém Pferdefuhrwerk Getreide durch das Lager gefahren zu haben, und zwar in dem Teil, der nicht von Gefangenen belegt war. Sie erblickten uns, éinige kamen herbei und warfen auf den wagen Seifenstücke, in Papier verpackt. Darauf standen Heimatadressen, mit der bitte, ihre Angehötigen zu benachrichtigen.
Herr Grundel, Jahrgang 1927, aus Gau-Algesheim, Heimat Sudetenland
Er war im Dietershéimer Lager im August 1945. Er erinnert sich noch genau an die Hungertage. Um die ausgeteilten KartoffeIn reiben zu können, wurden Blechdosendeckel am Stacheldraht mit Lächern versehen.
Brief von Egon link, geboren am 28.11.1927, Hans-Thoma-Str. 18, 7700 Singen
"Singen, 1 Juni 1991
Lieber Chronist,
'In Erdlöchern wie die Tiere gehaust und Zeitzeugen haben sich bis heute nicht gemeldet!.
Ich bekam Herzklopfen und blickte zurück:
Juni 1945, Hunger!! (17 Jahre ait, 187 cm groß 49 kg leicht!)
Zu dreien wagten wir einen Ausbruch aus dem von Ihnen beschriebenen Lager. Es muß an einem der Wachtürme im nördlichen Teil des Lagers gewesen sein. Todesmutig unterliefen wir den Wachturm, auf Brettern turnten wir über den Stacheldraht. Heute erlebe ich noch die Todesangst. Da war ein Kartoffelacker und dann ein Acker mit Beerensträuchern und endlich eine Straße. Sie führte nach Büdesheim! Im 3. Haus rechts, in der Johannisstraße 8, versteckten wir uns bei Familie Adam Hoos (heute: Willi und Anneliese Krämer). herr Hoos riet von einer Heimkehr ohne Entlassungspapiere ab. Er hat damals sicher vielen Gefangenen geholfen. Nach meiner regulären Entiassung päppelte mich Frau Hoos auf - wie einen eigenen Sohn. Ich blieb ihr Egon. Und ich bin ihr bis heute dankbar.
Egon link
Frau Krämer hat mir einen Zeitungsbericht aus der Binger Ileimatzeitung zugeschickt."
Ein weiterer Brief von Egon Link an den Verfasser
"Am 15. April 1945 geriet ich bei Erbengrün (östlich der Autobahn Nürnberg Berlin) in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Schlimmes ist in meinem Gedächtnis geblieben:
Ein Dunghaufen diente als erste Sammelstelle. Dann wurden wir ohne Nahrung tagelang in eingezäunte Ackerfelder gepfercht. Wer müde war, legte sich in den Dreck. Manche wurden wahnsinnig und rannten in den Zaun, wobei von den Wachen scharf geschossen wurde...
Ende April wurden wir mit einem riesigen LKW-Konvoi verlegt. Die Verladung (50 Mann pro Camion) wurde von Kolbenhieben. der Wachmannschaft unwürdig untermalt. Ohne Halt wurden wir in ein Lager zwischen Mainz und Bingen verlegt.
Die Verpflegung bestand zùnächst aus US-Verpflegungspäckchen, die aber nach einigen Tagen geöffnet ausgegeben wurden. In der Regel fehlten die Zigarettenn !Es war aber zu beobachten, daß am Lagertor ein Handel getrieben wurde zwischen Gefangenen und der Wachmannschaft: Rauchwaren gegen Geld, Uhren und sogar Eheringe ! Grausam war es, mit ansehen zu müssen, wie die Amerikaner ihre üppigen Essensreste in der Nähe des Lagereingangs mit Benzin übergossen und verbrannten. Ganz schwach kann ich mich daran erinnem,daß ich am Muttèrtag 1945 im " Ruhrzelt" lag. Ich sehe noch den Pastor vor mir, wie er sich bemühte, uns Mut zuzusprechen. Genesende erhielten übrigens einen Teller Milchsuppe extra.
Die letzte Verlegung erfolgte in das Lager Büdesheim (Verf.: wahrschelnlich Dietersheim). Unerträgfich war die "Unterkunft": keine Zelte, keine Decken. Mein rettender Schatz war ein langer, weiter Militärmantel, der oft einem Mitgefangenen noch Schutz bot. Bei Regén lag man eben im Dreck, bei sengender Sonne war man der Gluthitze ausgesetzt. Es gab ja keinen schattenspendenden Baum. Die hygienischen Verhältnisse waren menschenunwürdig. Bei der Gefangennahme trug ich nur das Sturmgepäck bei mir. Nach verschiedenen "Filzungen' blieben mir noch eine Blechdose und ein löffel Die Uniform, die ich im "Ruhrzelt" trug, das verschmutzte Hemd, die verdreckte Hose, trug ich noch bei meiner Entlassung am 22.07.45 !
Anfang Mai wurden von den Amerikanern die Entlassungspapiere ausgestellt: und sofort einbehalten. Wir waren noch immer ohne Dach über dem Kopf. ich fand in einem Erdloch Unterschlupf bei Eugen und Emil aus Ettenheim bei Lahr. Das Erdloch erwies sicli bei einem Unwetter als fast tödliche Falle.
Das Einbehalten der Entlassungspapiere wurde uns klar, als wir den Franzosen übergeben wurden. Die ersten Tage nach dem Wechsel waren chaotische Hungertage. Uns bewachte wohl eine mittellose Armee, war unser erster Gedanke. Dem Wachpersonal waren wir wehrlos ausgeliefert. ich sehe noch den Sergeanten vor mir, der mit einer bewaffneten Eskorte durchs Lager schritt und wahllos Gefangenen die letzten Habseligkeiten abnahm. Der Hunger trieb mich aus dem Lager. Ein Fluchtversuch gelang. Ein Winzer aus Büdesheim (Adam Hoos, Büdesheim, Johannisstrafße) nahm mich auf, machte mir aber die Unmöglichkeit einer Heimkehrklar. So zog ich es vor, ins lager zurückzukehren. Dabei nahm mich die deutsche Lagerpolizei fest: 14 Tage Kerker war das Urteil. "Kerker" nannte man ein etwa 40 qm großes Geviert. Mit dieser Haft war verbunden: halbe Ration, keine Bequemlichkeit (der Mantel mußte am Morgen beim. "Kerkenneister" abgegeben werden). Wer am Morgen schon am 'Tor des stacheldrahtbewehrten. Kerkers stand, durfte arbeiten. So grub ich das Vorgärtchen der deutschen Lagerleitung um. Ein Bursche gab mir heimlich die Reste des Mittagessens: Knödel und Sauerkraut. Welcher Kontrast zu unseren kargen Suppen
Mut bewies ich: lm Verwaltungszeit ließ ich mir den amerikanischen Entlassungsschein aushändigen, suchte den französischen Lagerkommandanten auf und bat um meine Entlassung. Noch am gleichen Abend wurde ich enthissen (22.07.45). Capitaine Baer unterschrieb als provisorischer Kommandant von Cage Nr. 8.
Als mein Vater mich daheim auf die Waage stellte, wog ich gerade 49 kg (bei 187 cm Körpergröiße).
Singen, 21.-Juli 1991 Egon link"
Für die ärztliche Betreuung der Gefangenen wurde ein Lazarett unter deutscher Leitung eingerichtet. Die schweren Fälle sind in einem amerikanischen Lazarett außerhalb des Lagers behandelt worden. Dieses bestand aus 50 Großzelten. Es konnten dort bis zu 1000 Patienten aufgenommen werden. Angesichts der großen Not im Lager waren diese Einrichtungen nicht ausreichend.
Im Juni 1945 wurden Gefangenenlager der Umgebung aufgelöst und deren Insassen auf die Lager Kreuznach und Dietersheim verteilt. In langen Kolonnen bewegten sich ausgemergelte Gestalten zu Fuß nach Dietersheim, darunter Hunderte von Hirnverletzten in Lazàrettkleidung. Wie Dr.Schreiber berichtet, war unter den neu Angekommenen der Chefarzt Dr.Dr. Kurth. In diesen Tagen hatte man den bisherigen deutschen Chefarzt im sogenannten "Käfig" (so Dr.Schreiber) eingesperrt; Grund: Auspeitschung von Kriegsgefangenen und Unterschlagung. Dr.Dr. Kurth, ein qualifizierter Oberarzt der Charité in Berlin, wurde mit der Oberleitung der Lazarette betraut.
Er fand nur Elend und Jammer vor. Dr.Schreiber berichtet:
Eine stets wachsende Zahl von "prisoners", ein Meer des Jammers und der Not: Unter den 25 Einzelcamps ein Sonderlager für die SS in Stärke von einigen tausend Mann, welche die Härte des Hungers und der Entlbehrung besonders traf', ob schuldig oder unschuldig, ob freiwillig oder gezwungen in dieser militärischen Formation... .* (Anm.d.Verf.: Dr. Schreiber unterscheidet nicht zwischen SS und Waffen-SS. in die Verbände der Waffen-SS wurden viele junge Männer zwangsweise eingegliedert!
Unter ihnen befanden sich etwa 120 von sogenannten "automatic-arrested men", d. h. die automatisch wegen ihres verdächtigen Berufes als besonders belastet galten, nämlich Juristen, Studienräte, Forsträte, Beamte im Akademidkerrang, Journalisten usw, Unter den genannten Insassen entdeckte der neue "chief-doctor";auch unbescholtene, biedere, echte Volksdeutsche aus dem Banat, die man verschleppt hatte, nachdem ihnen die Blutgruppe unter dem Am eingebrannt worden war. Weiterhin bestand ein Sondercamp für 3000 Jugendliche im Alter von 14 bis 18.jahren und für sonstige Gefangene in Zivil bis über 70 Jahre."
Der Mediziner sorgte dafür, daß die Gefangenen,ibre Verpflegungsrationen ethielten und verbesserte die Trinkwasserqualität. So konnte er wahrscheinlich eine Seuchengefahr verhindern.
Unter den Gcfangenen waren auch Geistliche beider Konfessionen. Sie übten die Seel sorge in ihrem jeweiligen Camp aus. Unter strenger Bewachung durften sie das Dietersheimer Pfarrhaus aufsuchen, um die für den Gottesdienst benötigten Gegenstände in Empfang zu nehmen.
Ende Juni begannen die Amerikaner mit der Entlassung von Gefangenen, darunter waren vor allem Kranke, Versehrte, Frauen und Kinder.
Anfang Juli 1945 wurde bekannt, daß das Lager den Franzosen übergeben werden sollte. Dies geschah denn auch am 10Juli. Etwa 60000 Gefangene blieben nach Abzug der Amerikaner im Lager zurück.
Der fransösische Lagerkommandant, ObIt. Schuster, erwies sich entgegen allen Bef'ürchtungen als Offizier mit lierz. Angesichts des vorgefundenen Elends wollte er bessere Verhältnisse schaffen. Es war ihm jedoch nicht möglich, da die französischen Soldaten in Bezug auf Verpflegung auf Requirierung bei der Bevölkcrung in den umliegenden Dörfern angewiesen waren. Sie konnten nicht wie die Amerikaner auf Lebensmittelnachschub aus ihrer heimat rechnen, da Frankreich durch die Kriegszerstörungen selbst sehr gr ßgen Mangel litt.
Auch die medizinische Versorgung des Lagers verschlechterte sich wesentlich trotz anerkennenswerter Bemühungen der Franzosen - da die Amerikaner ihre gut ausgestatteten Lazaretteinrichtungen mitgenommen hatten. Die Franzosen waren dagegen nur primitiv ausgerüstet.
infolgedessen verschlechterte sich die Lage der Gefangenen. Schreie der Not und der Vérbitterung der Lagerinsassen waren in der ganzen Umgebung zu hören.
Alle Lagergeistlichen wurden entlassen. Lagerkommandant Schuster verfügte,daß der Ortspfarrer Como die Lagerseelsorge übernahm. Er arbeitete dabei mit dem evangelischen Pastor Wilke aus Halle zusammen.
Oblt.Schuster wurde- nach kurzer Zeit abberufen. Sein Nachfolger war Capt.B., der nur etwa 2 - 3 Wochen amtierte. Er galt als "wilder Mann". Die Hungersnot und die Not der Kranken erreichten zu seiner Zeit den Höhepunkt.
Auf.Capt.B. folgte als Lagerkommandant Capt. Julien. Dieser war erschüttert über das vörgefundene Massenelend.
In der 6. Auflage (1990) des Buches von James Bacque, Kapitel "Lager (les langsamen Todes", wird (Seite 104) wie folgt berichtet:
"Er hatte mit seinem, Regiment, dem Troisième Régiment de Tirailleurs, Algériens, gegen die Deutschen gekämpft, weil sie Frankreich in Schutt und Asche gelegt hatten, aber eine Rache wie diese hatte er sich nie vorstellen können. Der morastige Boden war "bevölkert. mit lebenden Skeletten", von denen einige starben, während er zuschaute, andere kanerten sich unter Fetzen von Pappe die sie verzwetfelt festhielten, obwohl es ein heißer Julitag war. Frauen starrten aus Erdlöchern zu ihm hinauf. Hungerödeme trieben ihren Bauch zu einer grausigen Karikatur von Schwangerschaft auf, alte Männer mit langem grauem Haar versuchten schwach, ihm mit dem Blick zu folgen, Kinder von sechs oder sieben Jahren sahen ihn mit leblosen Augen an, gezeichnet mit den ringen des Hungers. Julien wußte kaum, wo er anfangen sollte. ln diesem Lager von 32000 Menschen in Dietersheim könnte er nicht die kleinste Menge Lebensmittel fïnden. Die beiden deutschen Ärzte, Kurth und Geck, versuchten im (die beiden sterbenden Patienten zu versorgen, die auf schmutzigen Decken ausgestreckt unter dem heißen Julihimmel lagen - zwischen den Spuren des Zelts, das die Amerikaner mitgenommen hatten."
Drei Lager in der Umgebung von Dietersheim mit 103500 Menschen wurden von den Amerikanem an die Franzosen übergeben. Ein Teil sollte als Arbeitskräfte in' Frankreich eingesetzt werden. Julien stellte fest, daß über . 32000 Lagerinsassen (alte Männer, Frauen, Kinder zwischen 8 und 14 Jahren) Kranke im Endstadium und Krüppel-waren. Er entließ sie sofort.
Lebensmittel aus eigenen Beständen standen ihm nicht zur Verfügung. Julien organisierte zusammen mit dem Bürgermeister von Dieters.heim eine erste Hilfsaktion.
Von Juli bis Anfang August erreichte die Sterbeziffer ihren Höhepunkt. Vom 10.07. (Übernahme durch die Franzosen) bis zum 10.8. starben 188 Gefangene. Vom 11.08. bis 31.08. waren nur noch 22 Todesfälle zu verzeichnen.
Angesichts der bitteren Not im Lager setzte Julien eine Aktion zur Beschaffung von Lebensmitteln in Gang. Die von ihm einberufene Konferenz befaßte sich am 31.07. mit dem Ernährungsproblem. Es waren u.a. beteiligt: Domkapitular Schwalbach, Laienseelsorger Werner Schade, der Superior des Klosters Jakobsberg und Pfarrer Como.
Eine beispiellose Aktivität setzte ein. Durch die Beteiligung weitester Kreise der Zivilbevölkerung, ohne Unterschied der Konfession, konnte durch reichliche Spenden der rod von Tausenden, verhindert werden. Aus der ganzen Umgebung wurden Lebensmittel 'geschickt, so aus Dietersheim, Sponsheim, Büdesheim, Bingen, Gensingen, Planig, Horrweiler, Dromersheim, Aspisheim, Ippesheim, BiebeLsheim und über Rheinhessen hinaus, bis hin zur Pfalz.
Die Bevölkerung leistete damit ein Maß an Humanität das wert ist, in der Geschichtsschreibung erwähnt zu werden. Christliche Nächstenliebe wurde hier praktiziert. Angehörige von Gefangenen und Entlassenen wurden beraten, geflohenen Gefangenen Unterkunft gewährt, beköstigt und - trotz verbotes - mit Zivilkleidung ausgestattet. Ganz besonders ist die karitative Leistung und das Werk der Nächstenliebe des Tag und Nacht engagierten Pfarrers Como, seiner beiden schwestern und seines Bruders herauszustellen und zu bewerten. in unermüdlichem Einsatz widmeten sie sich den Hilfsbedürftigen.
Der französischen Lagerleitung ist es hoch anzurechnen, daß sie in diesen Tagen etwa 10006 nicht arbeitsfähige Gefangene ohne große Formalitäten und ohne ärztliche Untersuchung freiließ.
Der hunger war noch nicht gebannt. Lebensmittellieferungen, die nun aus ganz Rheinhessen und dem weiteren Bereich eintrafen, konnten ins Lager gebracht werden. Es kamen Wagenladungen Kartoffeln, große Mengen Brot, und sogar Eier wurden angefahren.
Ein Glanzstück an Humanität lieferte man mit Hilfe des Landrats Schick. in der Binger Umgebung war die Jahresproduktion. einer großen pharmazeutischen Fabrik versteckt und von den Amerikanem zurückgelässen worden. Das Versteck wurde ausgeräumt und die Versorgung des Lagerlazarettes mit Medikamenten war gesichert. Die Menge der vorgefundenen Medikamente war so groß, daß die umliegenden Krankenhäuser und Apotheken beliefert werden konnten. Bauernwagen kamen mit Lebensmitteln ins Lager und verließen es wieder mit Medikamenten beladen.
Vom 05. August an strömten neue Gefangenentransporte, aus Norwegen kommend, ins Lager, so daß es mit etwa 100000 Menschen überbelegt war. Sie waren alle bei. bester Gesundheit. In der folgenden Hitzeperiode, danach in der Schlammperiode, lernten auch sie das Elend, die Not und den Hunger kennen. In Selbsthilfeaktionen besorgten sie sich an eine'r ungesicherten Stelle in der
Nähe der Bahnstation Büdesheim-Dromersheim, Kartoffeln, die die Bevölkerung vor dem Zaun hingelegt hatte.
Diese Gruppe "Norweger" - meist Facharbeiter im Zivilberuf - wurde zum Wiederaufbau ins zerstörte Frankreich abtransportiert. Eine große Enttäuschung für sie, denn in Norwegen war ihnen die Entlassung zugesagt worden,
Gegen die Langeweile und die infolgedessen zu befürchtende geistige Verödung richteten kriegsgefangene Professoren eine Lager-hochschule ein. Die lektüre lieferten Volksbüchereien der Umgebung.
Vom 01. September an wurde das Lager aufgelöst. Zirka 11000 Ungarn wurden in das Lager Hechtsheim bei Mainz verlegt. Tausende von arbeitsfähigen Facharbeitern verschickte man zum Wiederaufbau nach Frankreich. Die noch verbliebenen Gefangenen siedelte man ins Lagér Bretzenheim um.
Zur Abwicklung verschiedener Angelegenheiten arbeitete noch bis zum 24-09.1945 ein Aufräumkommando im Lager, unter leitung eines deutschen Offiziers.
Als die einhemische Bevölkerung der Gemeinden Dietersheim und Sponsheim ihre Felder wieder betrat, überkam die Menschen ein wahres Grauen, als sie die Greuel der Verwüstung sahen". Dennoch war es "ein geweihter Boden, durchtränkt und geheiligt durch die Tränen, Seufzer, Opfer und den Tod vielier deutscher Soldaten", wie der hochverdiente Pfarrer Como so treffend berichtet.
Die Gedenkstätte in Dietersheim
Am Ende der Straße "Zur Mühle" in Dietersheim steht die alte, aus dem 8. Jahrhundert stammende Kirche.
Die Kirche und der sie umgebende kleine Friedhof wurden 1980 nach umfangreichen Renovierungsarbeiten (einschließlich Neuanlage des Friedhofes) ihrer Bestimmung als Gedenkstätte an die Opfer des Zweiten' Weltkrieges und insbesondere an die dort bestatteten Opfer des Kriegsgefiiiigenenl;iger.s Dietersheim übergeben.
Ein großes Radkreuz steht gleich am neuen Eingang. An der Nordwand der Kirche befindet sich eine-Gedenktafel, gestiftet vom Verband der Heimkehrer, für den ehemaligen Dietersheimer Pfarrer Franz Mois Como (1928-1954), der sieh umdie Kriegsgefangenen im Lager Dietersheim sehr verdient gemacht hatte. Der Friedhof ist von einer 1,60 m hohen Mauer umfriedet. Der Südteil, vor der Kirche gelegen, weist 100 Gräber auf, der Westteil (hinter der Kirche) 63 und der Nordteil (rechts neben der Kirche) 47, die aile Einzelgrabzeichen (Bodenplatten) haben und durch insgesamt sieben Zweier- oder Dreiergruppen von großen schwarzen Basaltkreuzen überragt werden. Große Schieferplatten, in den Rasen eingelassen, führen zu den drei Grabfeldern. Der Soldatenfriedhof Bingen-Dictenheim wurde auch mit Zuschüssen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. instand, gesetzt.
Die Gedenkstätte an der alten Kirche in Dietersheim
Auf der Ehrenstätte ruhen 210 Soldaten des einstigen Lagers Dietersheim. Es handelt sich um die unter französischer Leitung des Lagers verstorbenen Soldaten (10.07.-31.08-194S). Die 390 unter amerikanischer Lagerleitung verstorbenen Gefangenen wurden wahrscheinfuch auf dem Soldatenfriedhof in Bad Kreuznach - Lohrer Wald - beigesetzt.
Das Kriegsgefangenenlager in Bretzenheim
Das Kriegsgefangenenlager in Bretzenheim ging unter dent Namen "Feld des Jammers' in die deutsche Nachkriegsgeschichte ein. offiziell sollen dort 3500 Kriegsgefangene bestattet worden sein. Auch hier herrschten im Frühjahr und Sommer 1945 unglaubliche Zustände. Das Lager war südlich von Bretzenheim angelegt, entlang der Straße von Bretzenheim nach Bad Kreuznach. Es nahm eine Ackerfläche von 1 km Breite und ca. 4 km länge ein. Es war durch Stacheldraht gegen Fluchtversuche abgesichert und von schwer bewaffneten Posten bewacht. in mehreren Fällen wurde rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch gemacht.
Die einzelnen Camps waren nach Altersgruppen gestaffelt. In einem Camp waren etwa 11000 Frauen, frühere Stabs- und Flakhelferinnen, Rote-Kreuz-Schwestern. und sonstige weibliche Wehnnachtsbedienstete untergebracht. Die weiblichen Mitglieder des Leipziger Opern-Ensembles, das-die Amerikaner aus unbekannten Gründen von Leipzig nach Bretzenheim transportiert hatten, waren ebenfalls in diesem Camp.
Die Frauen mußten bis Ende Mai im Freien übernachten. Im.Juni wurden erste "Lazarettzelte" für die zahlreichen Verwundeten unter den Gefangenen erstellt.
Nach Übernahme desLagers durch die Franzosen besserten sich die Verhältnisse .Bis zum Septemberwaren alle Gefangenen in Zelten untergebracht. Von Oktober an wurden Holzbaracken aufgebaut. Bis Ende 1948 war das lager belegt.
Es wurde bereits im Mai mit Entlassungen begonnen. Vor allem landwirte, Eisenbahner, Metzger, Bäcker durften nach Hause. Andere mußten den Weg zu jahrelangem Arbeitseinsatz in Bergwerken und dergleichen in Frankreich antreten.
Viele Tote waren Opfer der in den ersten Tagen fast völlig fehlenden und auch später unzureichenden Verpflegung. Vor allem Verwundete und Kranke, die von den Amerikanern aus Lazaretten in Mitteldeutschland nach Westen geschafft wurden, überstanden in ihrer dünnen Lazarettkleidung oft nicht die Unterbringung im Freien bei Kälte und Nässe.
Die Berichte von Gefangenen des Lagers sind erschütternd. Besonders schlimm auf die Verhältnisse wirkten sich die starken Regenfälle aus. Alles versank im Schlamm. Ruhr und Typhus waren die Folge.
Wie in Bretzenheim versuchte die Bevölkerung der umliegenden Gemeinden zu helfen. Frauen warfen Brot über den Lagerzaun trotz der Gefahr der Beschießung durch die Posten. Es fiel oft in die Sperrzone am Zaun. Wenn die Gefangenen sich darauf stürzten, begann eine wilde Schießerei der Posten. Es gab dabei Tote . Einzelne Posten, außerhalb des Lagers, nahmen den Frauen die Brote ab und reichten sie den Gefangenen durch den Drahtzaun, doch gab es andere Posten, die das Brot - wenn die Gefangenen danach griffen - vor ihren Augen zertraten.
Das Gefangenenlazarett in Heidesheim
Im Sommer 1945 wurde in Heidesheim ein Lazarett für kranke und verwundete Kriegsgefangene von den Franzosen eingerchtet. Es bestand bis Anfang 1945.
Die Geschichte dieses Lazarettes zeigt, im Vergleich zu den übrigen Gefangenenlagern der Umgebung, ein ganz anderes Gesicht.
Ärzte und Helfer, die aus dem Gefangenenlager Dietersheim kamen, richteten das Lazarett ein. Unermüdlich besorgten die Verantwortlichen mit Einverständnis der französischen Verwaltung die notwendige Ausrüstung.
Die Bürgermeister von Heidesheim, Lebert und später Sornberger, halfen so gut sie den Umständen entsprechend konnten. Nach kurzer Zeit meldeten sich Schwestern, um die Pflege der Kranken und Verletzten zu übernehmen.
Es wurden in den umliegenden Dörfern Lebensmittel besorgt. Eine Welle der Hilfsbereitschaft lief an. Nachbarn des Lazarettes brachten täglich Lebensmittel und andere lebenswichtige Dinge. Aus Ingelheim, Schornsheim, Spiesheim, Ensheim, Undenheim, Finthen und Alzey kamen Bürgermeister und Pfarrer. Sie luden Lebensmittel ab, ja sogar lebende Kälber wurden herbeigeschafft.
Französische offiziere kamen aus Bingen und brachten paketweise Zigaretten und Zigarren - ein Beispiel der völkerverbindenden Kameradschaft, die mehr für die deutsch-französische Freundschaft bewirkte als viele Bücher und Konferenzen.
So waren die Lazarettinsassen in bester obhut. Das Lazarett in Heidesheïm zeigt, daß es in diesen leidvollen Tagen des Jahres 1945 auch hoffnungsvolle Zeichen gab. Mit Hilfe der verständnisvollen französischen Obhutsmacht und, einer überwältigenden Hilfsbereitschaft der ganzen Bevölkerung Rheinhessens konnte hier viel Leid erspart und manches Leben gerettet werden. Welch krasser Gegensatz zu den Lagern Dietersheim und Bretzenheim wo nur himmelschreiendes Elend herrschte,
NACHWORT
Wie schon in der Einleitung betont, ist es heute schwer - fast 50 Jahre nach den geschilderten Ereignissen - den Wahrheitsgehalt mancher Aussagen zu überprüfen, die für den vorliegenden Bericht herangezogen wurden. Im Buch von Paul Carell und Günter Bödekker "Die Gefangenen" wird deshalb besonders auf die Auswertung der Dokumentation der vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte berufenen "Wissenschaftlichen Kommission für die Dokumentation des Schicksals der deutschen Gefangenen des Zweiten Weltkriegs" verwiesen. Der Auftrag des Bundesministeriums lautete: "Das Schicksal von 11 bis 12 Millionen Kriegsgefangenen in mindestens 20 Gewahrsamsstaaten von den Kriegsjahren bis zum Jahr 1956, als die letzten heimkehrten, in seinem ganzen Umfange und der ganzen Vielfalt als ein Stück deutscher Zeitgeschichte zu erfassen."
WÖrtlich aus dem Nachwort des angeführten Buches
"Für ihre Forschung standen der Kommission unter anderen rund 400 000 Heimkehrer-Aussagen zur Verfügung, die von den entlassenen Gefangenen gleich nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik gemacht wurden. Die Kommission zog weiterhin nahezu 50000 Berichte heran, und sie veranstaltete darüber hinaus eigene Befragungen und interviews.
An der Spitze der Kommission stand der Professor für Sozial- und Wirtschaftsge. schichte Dr. Erich Maschke, der selbst erst im Jahre 1953 nach achtjähriger Kriegsgefangenschaft aus der SowJetunion zurückeckommen war.
Die Kommission legte ihre Forschungsergebnisse in 22 Bänden nieder. Sie haben einen Gesamtumfang von mehr als 10 000 Druckseiten. Beidem Beginn der Arbeit
blieb offen, ob diese Berichte jemals der deutschen Öffentlichkeit vorgelegt werden sollten. Denn wie es im Text der Kommission heißt: "0bjektiv Geschichie zu schreiben, konnte nur heißen, die Wirklichkeit der Kriegsgefangenschaft einschließlich ihrer düsteren Seiten so exakt wie möglich nachzuzeichnen".
Es liegt völlig fern, die vom Nationalsozialismus verübten schweren Verbrechen durch die Darstellung des Unrechts der Siegermächte abschwächen zu wollen. In den vergangenen Jahrzehnten standen die von Deutschen verursachten Untaten immer wieder zur Debatte. Eine Dokumentation des leidvollen Schicksalsweges, den ein Großteil der deutschèn Kriegsgeneration gehen mußte, kann aber nicht unbeachtet bleiben und darf im objektiven Gesamtbild des folgenschweren Zweiten Weltkrieges nicht fehlen.
Die in diesem, Buch gemachten Aussagen können vom Verfasser des vorliegeinden Berichtes bestätigt werden, da er in der Zeit vom .17.03. bis 17.67.1-945 vier Gefangenenlager kennenlernte: Remagen, Namur/Mons, Revin und Dietersheim
(hier von Anfang Juni bis 17.07.45).
An dieser Stelle möchte ich der Stadtverwaltung Bingen. Herrn Landrat Herzog, den Heimatfreunden am Mittelrhein, Herrn Pfarrer Otto, Bingen-Dietersheim. sowie Herrn Diakon Josef Bader, Bingen-Büdesheim, für die Zurverlfügungstellung von Unterlagen herzlich danken, ohne die dieser Beitrag nicht möglich gewesen wäre.
Der Verfasser